Lawinenwinter 1951 - damals im Heimeli und im Sapün

Alice Bäder hat damals im Heimeli gearbeitet und teilt mit uns ihre Erinnerungen.
"Es schneit seit Tagen. Leicht und luftig häuft der Schnee sich an. Der Weg zum Stall muss jeden Tag freigeschaufelt werden. Wir sind im Haus eingeschlossen. Das «Turbinchen» hinter dem Haus läuft zuverlässig. (Anmerkung v. Gabriella: Früher hatte das Heimeli eine eigene kleine Turbine.) So haben wir Strom und auch Licht. Unsere Heimeli Familie ist unter sich. Die Meistersleute, der Knecht Giovanni und ich, das Mädchen für alles. Gäste haben wir, wie meist im Januar, keine. Überall in den Bergtälern wachsen die Sorgen. Überall könnten, auch an ungewohnten Orten, Lawinen niedergehen, so heisst es im Radio. Das Telefon geht noch. So wissen wir, dass im Dörfji draussen alles in Ordnung ist. Das Vieh aus den Aussenställen ist im Dorf, die Menschen noch wohlauf, wie wir in den Häusern eingeschlossen.
Die schlimmen Meldungen im Radio häufen sich. Überall Lawinen. Dörfer werden verschüttet, Rettungskolonen in die Tiefe gerissen. Überall versuchen die Menschen Leben zu retten, schaufeln Tag und Nacht. Oft vergebens. Auch bei uns wird geschaufelt. Oft vergebens. Nur mit Mühe schaffen es Meister und Knecht zum Heustall. Durch die Pfanille, wo das Heu heruntergeworfen wird, schaffen sie es in den Stall hinunter, um das unruhige Vieh zu versorgen. Wir im Haus eingeschlossen, gehen der gewohnten Hausarbeit nach. Jede Stunde am Radio, die neusten Meldungen hörend. Am Samstagvormittag, ein Ruck am Haus – das Telefonkabel ist weg. Nun sind wir wirklich von der Umwelt abgeschnitten. Wirklich auf uns gestellt. Ein seltsames Knacken lässt uns ans Fenster eilen. Die Telefonstangen brechen ab, eine um die andere verschwindet an den Drähten gezogen im Schnee. Am Nachmittag, wir sitzen in der Stube, kriecht unsere Katze Mugg auf dem Bauch unter den Ofen, Momente später ist draussen die Hölle los. Das Haus wird wie mit Riesenfäusten gegen den Berghang gedrückt, die alten Balken knirschen und knorzten. Es rumpelt und tobt. In der Stube wird es dunkel. Dann Ruhe und lähmende Stille. Wir stehen da – was war das? Das Haus steht noch. Von den zimmerwarmen Fenstern fällt der Schnee in Brocken herunter. Die Chüpfenflue schickte eine Staublawine herunter und deckte die Hausfront mit einer dicken Schicht Schnee zu. Wir haben es gut überstanden. Der Mugg kriecht hervor, sitzt auf seinem Lieblingsplatz auf dem Ofen und beginnt eine ausgiebige Katzenwäsche – also Gefahr vorbei, alles noch einmal gut gegangen.
Der Sonntagmorgen strahlt mit blauem Himmel und glitzerndem Schnee.
Ein Kleines Flugzeug wirft eine Tasche ab mit einer Nachricht. Würde man etwas brauchen, wären Zeichen in den Schnee zu stapfen. Doch wir sind gut versorgt, brauchen nichts Lebenswichtiges und sind verwundert über diesen seltsamen Besuch in der Luft. Man hat uns nicht vergessen, wie gut.
Am Mittag tut sich etwas vorne am Weg. Die Sapüner kommen. Mit viel Schaufeln und einigen Stücken Vieh bahnten sie sich einen Weg zu uns ins Heimeli. Die Freude ist gross. Auch im Dörfji ist alles gut. Tränen, Tränen der Freude, fliessen. In der Stube wird erzählt. Meschen und Tiere sind gut davongekommen. Viele Ställe und Bargen sind weg, man kenne sich nicht mehr aus, erzählen sie. Sie versprechen, unsere Familien zu benachrichtigen, die sich grosse Sorgen gemacht hatten.
Am Montag machen auch wir uns auf den Weg über die vielen Lawinenkegel. Das Pferd Hans weigert sich erst einmal. Da ist kein Weg mehr zu erkennen, er kennt sich nicht mehr aus und bleibt einfach stehen. Unten im Tobel, wo der grosse Stall von Hans Zippert stand, schaut ein Heugabelstiel aus dem Schnee. Ein Zeichen, dass dort unten der Heustock liegen muss. So gab es noch viele Überraschungen. Was mich schon damals freute, war die wunderbare Zusammenarbeit, als dieser Stall wieder aufgebaut wurde. Alle halfen mit. Jeden Tag brachte eine andere Familie das Mittagessen vorbei."
Alice Bäder arbeitete zwischen 1948 und 1951 im Heimeli und hat dort ihre Haushaltlehre bei Agnes Engel absolviert. Noch heute erinnert sie sich gerne an ihre Heimelizeit zurück und weiss unglaublich viel zu erzählen. Letzte Woche hat Alice für uns ihre Erinnerungen, an den Lawinenwinter 51, zu Papier gebracht. Herzlichen Dank, liebe Alice. Ohne dich wäre so manche Heimeli-Anekdote und vieles über das Leben von damals verloren gegangen.
Übrigens hat uns Alice im letzten Winter im Heimeli besucht. Wer mehr über Sie lesen und erfahren möchte… hier noch ein paar weitere Beiträge auf unserer Blogseite.
https://heimeli.swiss/blog/162-zwischen-diesen-beiden-laecheln-liegen-75-jahre
https://heimeli.swiss/blog/37-von-den-anfangszeiten-des-heimelis
https://heimeli.swiss/blog/36-eine-reise-in-die-vergangenheit
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